Pete und Stella
Pete versuchte sich von den kraftvoll
einfallenden Sonnenstrahlen nicht aus seinen Tagträumen reißen zu lassen. Er
hatte wie so oft sein T-Shirt ausgezogen und zu einer Wurst verdrillt, um es
sich so auf die Augen zu legen. Den Mädels im Pub erzählte er öfters, er
betreibe Traumforschung, weil er sich hin und wieder Notizen kurz nach dem
aufstehen machte. Tatsächlich war das nur eines seiner vielen Alibis, um nicht
wirklich am Leben teilnehmen zu müssen. Gegen halb Elf schlief er meist schon
etwas unruhig. Er streckte seinen Arm aus und tastete nach Stella, doch
sie war nicht mehr da. Der gestrige Abend war wieder einmal heftig gewesen und
gepeinigt von einem Schub Flashbacks, schnellte er hoch, und blinzelte fast
blind nach seiner Jeans, in der noch Kippen stecken mussten, angelte sie vom
Boden mit seinem großen Zeh und zog sie zu sich hoch. Der erste Zug stach in der
Lunge und erinnerte Ihn an die Notwendigkeit, umgehend die neue Coldplayscheibe
anzumachen und einen starken Kaffee einzuwerfen. Die zentrale Stadtwohnung war
riesig, unaufgeräumt und völlig überheizt und der Weg zur Küche war in seinem
Zustand lang und beschwerlich. Er schlenderte an Stella vorbei und murmelte.
„Gott sei dank, sie ist gar nicht tot!“
Nur mit einer Shorts bekleidet, trat er auf den
sonnigen Balkon, trank einen Schluck Milch aus der Tüte, Stella ermahnte ihn mit
einem brummen und streckte sich, in der Hoffnung, das ihn eines der Mädels von
gegenüber wieder mustern würde, aber es war Wochentags und die Welt saß vor
Bildschirmen und tippte. Nur Pete nicht. Erwerbsarbeit war nicht sein Ding. Er
hatte beschlossen sich von Stella adoptieren zu lassen, das wäre zu bequem, und
deshalb stand jetzt erst mal die Erforschung von Dekadenz auf dem Programm.
Stella saß tatsächlich vorm Bildschirm und
tippte. Wenn sie nicht gerade Mäntel, oder Abendkleider designte, schrieb
sie Artikel für ihre Kampagnen. Eigentlich arbeitete sie immer. Wenn nicht
gerade unterwegs, machte sie das meistens von zu Hause aus, obwohl ihre Agentur
nur ein paar Stockwerke tiefer lag. Pete verstand gar nicht wie man so einen
Wirbel um Klamotten machen konnte, aber Stella verstand auch nicht, wie man so
einen Wirbel um Musik machen konnte. Da waren sich beide wunderbar einig. Sie
war Agenturchefin und beschäftigte ein ganzes Heer von talentierten
Modedesignerinnen. Bis Pete bei ihr eingezogen war, dachten alle sie wäre
lesbisch, weil sie prinzipiell keine Männer einstellte und schon ewig
Workoholicsingle gewesen war. Aber das hatte andere Gründe. Ihr war klar, Männer
können manche Sachen eben nicht und sie hatte recht. Stella war der
temperamentvolle, südeuropäische Typ und hatte die Angewohnheit, ab und zu
fluchend ihre Macbooks aus dem Fenster zu werfen. Deshalb hatte sie auch immer
einige davon auf Vorrat da und speicherte routinemäßig ihre Arbeit wireless auf
dem Agenturserver. Es war ein Wunder, das sie dabei noch niemanden umgebracht
hatte. Aber wie das meiste im Leben, war auch das nur eine Frage der Zeit. So
ein zwei Kilo Notebook entwickelt beim Fall aus dem sechsten Stock eine
Aufschlagswucht, bei der leicht die Schädeldecke aufplatzen kann, bemerkte Pete
regelmäßig, wobei ihm eigentlich nur die vielen, schönen, weissen Notebooks leid
taten, weil er sich als Schüler mal eines vom Mund abgespart hatte. Pete ließ
die volle Milch auf dem Balkon in der Sonne stehen, setzte sich zu Stella an den
riesigen und reich gedeckten Küchentisch und schenkte sich Kaffee ein. Die
beiden sahen zusammen aus, wie das Bilderbuchtpaar. Er hatte was von einem etwas
vergammelten Rockstar und sie hatte sich früher mit modeln durchgeschlagen,
hatte hüftlange rote Haare und eine Präsents, die Männern regelmäßig
Schweißperlen auf die Stirne trieb. Pete allerdings war viel zu verplant für
Angst vor schönen Frauen. Er war beim aufreißen meist so besoffen, dass er erst
am nächsten Morgen feststellten konnte, ob er einen guten Fang gemacht hatte,
oder nicht. Zum Frühstück blieb er aber immer. Die Frage war nur, ob er mit oder
ohne ihrer Telefonnummer die Wohnung verlassen würde. Stellas Nummer brauchte er
gar nicht, weil er einfach nicht mehr gegangen war. Und da ohnehin die halbe
Agentur einen Zweitschlüssel besaß, war alles ganz unkompliziert gewesen. Das
ganze war klar Liebe auf den ersten Blick. Und sie waren sich da beide so
sicher, dass sie sich das nicht mal sagen mussten.
„Weißt du was ich geträumt habe?“, fragte er.
„Klar!… Was denn Schnuffel?“
„Ich habe geträumt, dass du dich auch noch
umbringst. Und danach dann gleich dieser George… Unabhängig… am selben Tag.“
„Ach komm her!“, sagte sie und umarmte ihn ganz
fest, streichelte ihm über den Kopf und wendete sich dann wieder ihrem Mac
zu.
„Genau… ich hab das mal recherchiert. Ich kenne
elf Leute, die sich umgebracht haben. Und rate mal was der Durchschnitt
ist?“
„Durchschnitt wovon?“
„Wie viele Menschen man durchschnittlich kennt,
die Selbstmord begangen haben.“
„Und?“
„Eins! Jeder Mensch kennt im Durchschnitt einen
Menschen, der sich das Leben genommen hat. Ich kenne elf.“
„Ja, ist schon krass.“
„Und ich hab das mal recherchiert, selbst wenn
ich in einem Irrenhaus leben würde, in dem allen gleichzeitig das Heroin
ausgegangen wäre, allen gerade die Eltern verunfallt wären und alle gleichzeitig
erfahren würden, dass sie eine tödliche Krankheit haben und in kürze ableben
werden, selbst dann wäre der Schnitt sechs. Ich kenne elf, dabei lebe ich bei
dir im Paradies!“
„Das stimmt!“
„Ich hab das mal recherchiert.“
„Das erwähntest du bereits.“
„Und weißt du was dabei rausgekommen ist?“
Sie hielt kurz inne und blickte über ihre
knallrote Charakterbrille in seine Augen.
„Etwa Eins?“
Ihr Gehirn arbeitete um diese Uhrzeit etwa
zehnmal so schnell wie seins.
„Nein, dass ich beschlossen habe, dem ganzen auf
den Grund zu gehen.“
Er nahm einen Schluck frisch gepressten
Orangensaft.
„Das geht einfach nicht mit rechten Dingen zu.
Verstehst du? Das geht schon rein statistisch nicht. Das muss irgendeinen Grund
haben. Vielleicht liegt es an mir? Oder ich weiß es nicht.
Das ist einfach verrückt! Ich sollte eine
Suizidhotline aufmachen. Ring!!! Ja guten Tag, ich kann ihnen nicht helfen, sie
machen ja doch was sie wollen! Klick!!!“
Ohne, zu ihm aufzusehen, schenkte sie ihm ein
Lächeln. Stella war es gewohnt, deutlich mehr Aufmerksamkeit von anderen zu
bekommen, als die ihnen schenkte.
Der Verlust von so vielen Menschen hatte dunkle
Spuren im Leben von Pete hinterlassen, doch im Moment ging es ihm gut und er
schöpfte Kraft aus seinem neuen Projekt. Ein besonders gelungenes
Schwarzweissfoto, dass er neulich mal für ein Casting von sich hatte machen
lassen, hing zentral an einer Korgwand im Schlafzimmer. Drum herum die Fotos
seiner toten Freunde, verbunden mit farbigen Fäden, dazu allerlei
Zeitungsartikel und Ausdrucke. Er kam sich vor, wie einer dieser misteriösn FBI
agenten, die in ihrer Freizeit dramatische Fälle auf eigene Faust lösen. Er war
eindeutig in all diese Selbstmorde verwickelt. Pete saß mit einem der Macbooks
auf dem Schoß in einem bequemen Ohrensessel vor seiner Korgwand, auf seinem
T-Shirt stand: „Statistik lügt nicht“. Er führte stundenlange Telefonate mit den
Eltern und Hinterbliebenen seiner Selbstmordopfer und recherchierte die
Hintergründe. Die Kriterein, von denen er seine Fragen ableitete wurden immer
vielfältiger und verstrickter. Auf welcher Ebene waren die Gemeinsamkeiten zu
suchen? Was verband diese Menschen an der Wand noch, ausser dass sie alle
Freunde von Pete waren? Doch so richtig hatte er an dem Tag Blut geleckt, als er
einmal früher als Stella aufgestanden war, den ganzen Tag an seinem Fall
gearbeitet hatte und sie ihn spät abends aus dem Schlafzimmer rauschmiss, weil
sie schlafen musste. Einmal mehr Motivation und Kraft für eine Sache
aufzubringen als Stella für ihre tägliche Arbeit war ein ganz klarer Wink mit
dem Kaunpfahl für ihn. Nach zweiungdreißig Jahren hatte er endlich etwas
gefunden, was zu ihm gehörte. Und auch wenn dazu erst elf seiner Freunde sterben
mussten, war das für ihn ein Geschenk des Himmels. Es gab seinem Lotterleben
Richtung und Struktur, er trank und rauchte weniger und auch äußerlich sah er
gepflegter aus. Auch musste er nicht jede Nacht mit einem neuen Teeniegirl
schlafen, um nicht durchzudrehen und das hatte den Vorteil, dass er eine stabile
Beziehung mit Stella führen konnte. Sein Leben war zum ersten mal eine runde
Sache.
Audio
clip: Adobe Flash Player (version 9 or above) is required to play this audio
clip. Download the latest version here.
You also need to have JavaScript enabled in your browser.
Anastasias Dünndarm
Herr Dünndarm hatte sich wieder mal beim Müll
raus bringen ausgesperrt. Und obwohl er die anstehende Prozedur schon einige
Male durchgemacht hatte, wartete er eine geschlagene Viertelstunde unruhig auf
seinem Fußabstreifer, um sich ganz sicher zu werden, dass sich die prekäre
Situation nicht doch irgendwie von selbst lösen würde. Das tat sie nicht…
Überhaupt nicht. Mehr durch die Tatsache getrieben, dass er von hier aus seinen
Fernseher nicht sehen konnte, als dass ihn diverse Passanten in seinen
durchlöcherten Woolworthunterhosen musterten, machte er sich auf den Weg zu
Horst, seinem Nachbarn, der eine saftige Watschen für die Erziehungsmaßname
hielt und der mit nur einem einzigen Fußtritt die Haustüre von Herrn Dünndarm
eintreten konnte. Die Situation entpuppte sich als besonders verzwickt, als sich
nach mehrminütigem Sturmklingeln an Horsts Haustüre eine vage Erinnerung
einzuschleichen begann, die indirekt mit dem Zettel an der Türe zu tun haben
konnte, auf dem stand, „Bin im Urlaub… bitte Katze füttern. “ Die rieselnden
Schneeflocken hatten inzwischen auf Herrn Dünndarms Halbglatze ein Rinnsaal
gebildet, das hinter seinen fleischigen Ohren abfloss und sich in seiner
Rückenbehaarung sammelte. Herr Dünndarm dampfte wie ein üppiger Komposthaufen
und trottete den Weg zurück zu seiner Haustüre. Angekommen, bemerkte er, dass
die Situation sich immer noch nicht geklärt hatte… Da hatte er eine Idee. Seine
buschigen Augenbrauen hoben sich langsam und verharrten dort eine Weile. Er
bemerkte, dass ihm kalt wurde und er vergaß die Idee wieder. Dann klingelte er
drei Mal - er klingelte immer drei Mal. Ihm war irgendwie klar, dass es sinnlos
war an seiner eigenen Türe zu klingeln, wenn er nicht zu Hause war, aber was
sollte er tun? Da niemand seine Haustüre öffnete, bekam er das Bedürfnis, das
sie sich öffnete und als sie das auch nach einem schmerzhaften Fußtritt nicht
tat, wurde er etwas wütend. Inzwischen hatte sich auf dem gegenüberliegenden
Supermarktparkplatz eine kleine Traube von Jugendlichen gebildet, die mit
Bierdosen bewaffnet, sich einig schienen, dass dieser nackte Dicke, das
unterhaltsamste war, was sie die nächsten Stunden zu Gesicht bekommen würden und
dass er gleichsam auch ein geeignetes Ziel für eine koordinierte
Schneeballattacke abgeben würde. Ein Streifenwagen fuhr im Schritttempo vorbei
und hielt einige Zeit, wohl um die Jugendlichen etwas einzuschüchtern. Die
Sattelitenstadtsiedlung war berüchtigt für gewaltsame Übergriffe von
alkoholisierten Jugendlichen. „Polizei anrufen…. gute Idee“, dachte Herr
Dünndarm und sah Rettung in Sicht, griff in seine Bademanteltasche, um seine
Fernsehbrille aufzusetzen, denn die brauchte er, um das Telefon suchen zu
können. Er griff ins Leere, sein Bademantel befand sich dummer Weise im Haus.
Das war ein ernsthaftes Hindernis, denn ohne seine Brille würde es ewig dauern
das Telefon in all dem Chaos zu finden. Herr Dünndarm streichelte seinen
monströsen Bierbauch und dachte eine Weile über die Rufnummer nach, die er
wählen würde, und was er dann wohl werde sagen müssen. Währenddessen starrte er,
nach Konzentration ringend, mit ernstem Blick auf den Streifenwagen vor seiner
Haustüre, der nach einer Weile langsam weiter fuhr und dadurch Herrn Dünndarms
Augenbrauen hochschnellen ließ, denn er begann die Möglichkeit zu entdecken,
sich direkt an die Polizisten zu wenden, die sich in dem Streifenwagen befinden
mussten. Das wäre sicherlich ein Vorteil. Doch als er nach einem weiteren,
vergeblichen Griff in seine Bademanteltasche und mit weit geöffnetem Mund bereit
war, um auf die Polizisten zuzugehen, waren diese schon außer Sichtweite und
seine Augenbrauen senkten sich langsam wieder. Jetzt war ihm inzwischen
ernsthaft kalt und er verpasste nach einer langen Pause seiner Haustüre erneut
einen Tritt… Dann noch einen… Dann klingelte er drei mal, klingelte dann etwas
Sturm, klingelte dann eine Weile lang Sturm in Dreiergruppen, um dann noch
einmal, diesmal aber betont heftig, gegen seine Türe zu treten. Im Moment der
Kollision seines Fußes mit der Tür, schoss ihm ein heftiger Schmerz in seinen
Zeh, und rund um ihn schlug eine Salve von Schneebällen ein, einer davon platzte
hart auf seinem Hinterkopf. Doch ohne sich für die Herkunft der Schneebälle zu
interessieren, gab er seiner weiter anschwellenden Wut durch hartnäckiges
Sturmklingeln Ausdruck. Irgendwann drehte er sich um, griff vergeblich nach
seiner Brille, ärgerte sich über seinen fehlenden Bademantel und stapfte
verdrossen auf die Rückseite seines Hauses, um zu kontrollieren, ob er
vielleicht über die Hintertüre Einlass finden würde. Routinemäßig stapfte er die
Hintertreppe hoch, lief quer durch sein Wohnzimmer zum Badezimmer, nahm seinen
Bademantel vom Haken, zog ihn an, griff in die Manteltasche, zog seine Brille
heraus, setzte sie auf und sah sich um. Das Telefon lag direkt vor ihm auf einem
Stapel Bananenkartons. Ein Glücksimpuls bahnte sich seinen Weg durch das
Gehirn von Herrn Dünndarm, der das Telefon in der Linken, erfreut feststellte,
das sein Apparat eine eigene Notruftaste besaß. Doch als ihm die Stimme am
anderen Ende der Leitung fragte, ob er einen Zweitschlüssel besitze, legte er
verdutzt auf. In der Tat… er besaß einen! Doch wo? Er sah sich um. Berge von
Bierdosen, dutzende überquellende Aschenbecher, riesige Stapel von
Werbebroschüren, Unterwäsche, Socken und jede Menge Flaschen. Er beschloss, dass
das mit dem Zweitschlüssel noch warten könne, diesen zu finden würde einer
umfangreichen Säuberungsaktion bedürfen, und er ließ sich in seinen
Fernsehsessel fallen. Doch noch bevor er dreimal die 320 Kanäle durchgezappt
hatte, klingelte es an der Tür. „Das muss Horst sein“, dachte er. Herr Dünndarm
schaffte es erst nach dem dritten Anlauf, sich aus dem sehr bequemen Sessel zu
befreien, schleppte sich zur Haustür, entdeckte ein Stückchen uralten
Weihnachtsstollen auf der Anrichte, stopfte diesen alles voll bröselnd in seinen
Mund und öffnete mit der anderen Hand die Tür. Die Abendsonne stand tief und
strahlte ihm kraftvoll, golden ins Gesicht, so dass er die Augen völlig schloss
als er sagte. „Hmmmhm?“ Eine sanfte Frauenstimme mit osteuropäischem Akzent
sagte: „Herr Dünndarm?“ „Hmhmmhmhmmh!“, antwortete er. „Hallo, ich bin
Anastasia. Sie haben mich in einem Preisausschreiben gewonnen!“ „Hhhmhmhmm?“,
fragte er und öffnete seine Augen einen winzigen Spalt. Und das war dann auch
der Moment, an den er sich so oft zurück erinnern sollte. Der Moment, an dem er
sich so unsterblich verliebte. Unendlich viel Licht strömte in seine kleinen,
unruhigen Augen. Es sollte der Wendepunkt in seinem Leben werden, in dem
schlagartig zum aller ersten mal, alles in seinem Leben einen Sinn bekommen
sollte. Die von blonder Haarpracht wallende Silhouette, die so unwiderstehlich
duftete und mit hautengem Outfit und ihren perfekten Körpermaßen geradezu
aufforderte, sie direkt hier und jetzt zu bespringen, stand einfach nur so vor
der Haustüre von Herrn Dünndarm und machte keinerlei Anstalten schreiend
wegzulaufen. Im Gegenteil. Nachdem Herr Dünndarm den trockenen Stollen mit
einiger Mühe hinunterwürgen konnte, und nun damit beschäftigt war, sich mit
seinen Raucherwurstfingern beschämt die Reste von Stollenbaz aus den Winkeln
seiner dritten Zähne zu kratzen, wiederholte die Licht umflutete Engelsgestalt:
„Hallo, ich bin Anastasia. Sie haben mich in einem Preisausschreiben gewonnen!“
„Bitte… Komm’se rein!“ Mit ihren hochhackigen Schuhen überragte sie Herrn
Dünndarm um zwei Köpfe. Sie warf ihren rosa Angoraschal über ihre Schulter, hob
ihr entzückendes, handbesticktes Köfferchen vom Boden auf und betrat mit
schlanken, seidenen, nackten Beinen das Haus. Ihre vollen Lippen und ebenen
Gesichtszüge wirken über alle Maßen perfekt. Er Stand weiter vollkommen verdutzt
mit offenem Mund vor der Tür, während sie ohne Umschweife damit begann das Haus
aufzuräumen. Als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht und als wäre es
das selbstverständlichste von der Welt, warf sie Unterwäsche, Hosen, Pullover
und Socken auf einen Haufen, entleerte die Aschenbecher und stapelte sie zu
einem Turm, las jede einzelne Werbebroschüre einzeln vom Boden auf, als wären es
wertvolle Dokumente, klappte sie vorsichtig zusammen und stapelte sie sorgsam
auf einem Beistelltisch. Dann wischte sie mit einem feuchten Tuch die Möbel. In
windes Eile lichtete sich das Chaos und der Dreck verschwand. Herr Dünndarm
beobachtete das für ihn völlig Unfassbare sprachlos und aus sicherer Distanz
heraus. Im Nu lief die Waschmaschine und war alles Geschirr abgewaschen,
abgetrocknet und eingeräumt. Und als das Haus makellos war und Herr Dünndarm
immer noch halb nackt, mit dem Rücken an eine Wand gepresst in seinem nicht
wieder zu erkennenden Wohnzimmer stand, trat Anastasia würdevoll vor ihn, sah
ihm tief in die Augen, blieb eine Zeit lang so stehen, hob dann ruhig ihren
hübschen Arm, wischte mit ihrem Daumen ein paar Brösel vom Mund des Herrn
Dünndarm, nahm bestimmt seine Hand und führte ihn ins Schlafzimmer, ließ ihre
Kleider fallen, legte sich ins frisch gemachte Bett und machte eine sichere,
einladende Geste mit ihrem Kopf. Da schoss Herrn Dünndarm das Adrenalin dermaßen
in den Hals, dass er an zwei Wänden kollidierte, bevor er mit
Höchstgeschwindigkeit das Badezimmer erreichte. Während er die Dusche mit der
einen Hand aufdrehte, schnappte sich die andere die Zahnpaste und das rechte
Bein gab der Badezimmertüre einen Schubs. Als die Dusche voll aufgedreht war und
damit eine Hand frei wurde schnellte diese zur Zahnbürste, griff treffsicher
nach ihr und führte sie in einer heftigen, schwungvollen Bewegung zur bereits
geöffneten Zahnpastatube. Unmittelbar entlud sich mit einem explosiven Geräusch
ein dicker Spritzer Zahnpasta auf die Bürste, die praktisch im gleichen Moment
im Mund von Herrn Dünndarm verschwand. Die Zahnpastatube fiel ins Waschbecken
und die frei werdende Hand riss die alte Unterhose zu Boden und danach den
Duschvorhang zur Seite. Mit absurder Frequenz rubbelte die Zahnbürste hin und
her, während er unter die Dusche sprang und sich im Flug das Duschgel schnappte.
Er schloss fest die Augen und presste das Gel über seinem Kopf mit ganzer Kraft
zusammen. Seine Glatze schäumte auf, er schleuderte das Gel zur Seite und begann
sich am ganzen Körper hektisch im Rhythmus der Zahnbürstenbewegung abzurubbeln.
Nach Luft schnappend warf er die Zahnbürste von sich und richtete den harten
Wasserstrahl mithilfe der zweiten Hand auf seinen Mund und seine dritten Zähne
wirbelten darin herum. Dann stoppte er den Wasserstrahl mit einem
gekonnten drall am Haupthahn, sprang aus der Dusche und rubbelte sich wie ein
Verrückter mit einem winzigen Handtuch am ganzen Körper ab. Dann stürmte er
zurück zum Schlafzimmer, blieb abrupt und schwer atmend auf der Türschwelle
stehen und war unglaublich erleichtert, dass sie noch nicht verschwunden war.
Eine einzige Kerze erleuchtete das warme Zimmer und sie hatte sich inzwischen
zugedeckt, so dass nur noch ihr Köpfchen, eine Schulter und ein Arm zu sehen
war. Bildschön sah sie aus, sie atmete tief und schien eingeschlafen zu sein. Da
wich Herr Dünndarm vorsichtig und ehrfurchtsvoll zurück, um ja kein Geräusch zu
machen, und wollte gerade leise die Türe schließen, als Anastasia mit
verschlafener Stimme flüsterte. „Komm zu mir, mein Liebster!“ Da schossen Herrn
Dünndarm die Tränen in die Augen, und wie an einem sich aufrollenden Faden,
wurde er von ihr in das warme, duftende Bett gezogen, liebevoll geküsst und
umarmt. Seit diesem Tag waren die beiden ein unzertrennliches Paar und lebten
glücklich bis ans Ende ihrer Tage und im Wohnzimmer von Herrn Dünndarm hing in
einem schönen, alten Bilderrahmen seit diesem Tag an eine Anzeige aus einer der
Werbebroschüren, die Anastasia beim aufräumen entdeckt hatte. Die Anzeige zeigte
ein Produktbild von Anastasia in erotischer Unterwäsche, die mit einem
Staubsauger in der einen Hand und einem Akkuschrauber in der anderen
verführerisch in die Kamera lächelte. Darunter stand in leuchtender Neonschrift.
„Gewinnen Sie eine von 999 Anastasias, der neuen Generation von
Multifunktionshaushaltsrobotern von Terraforming Bionics.“
Audio
clip: Adobe Flash Player (version 9 or above) is required to play this audio
clip. Download the latest version here.
You also need to have JavaScript enabled in your browser.